„Die Stoffe sind mir schon lang im Kopf herumgegangen“ - Ria Airam über ihren Prosaband „Lucies Männer“

Maria Hammerich-Meier (Foto: Martina Schneibergová)

Eine böhmische Trilogie lautet der Untertitel des Prosabands „Lucies Männer“. Die Autorin des Buchs ist Ria Airam, doch das ist nur ein Pseudonym. Der richtige Name lautet Maria Hammerich-Meier. Sie stammt aus Niederösterreich, hat Slawistik und Germanistik an der Universität in Wien studiert. Nach der Wende verbrachte sie als Hochschullehrerin mehrere Jahre in Tschechien. Maria Hammerich-Meier hat auch für den Tschechischen Rundfunk gearbeitet, unter anderem hat sie Beiträge für Radio Prag angefertigt. Derzeit ist sie als Übersetzerin, Autorin und Journalistin tätig und lebt in Oberfranken. Im Folgenden ein Interview mit ihr.

Maria Hammerich-Meier  (Foto: Martina Schneibergová)
Maria, du hast dein Buch „Lucies Männer“ unter einem Pseudonym herausgebracht. Warum?

„Mein wirklicher Name Maria Hammerich-Meier ist sehr lang, gänzlich unpoetisch, und ich finde, dass er nicht gut auf einen Buchdeckel mit belletristischer Prosa passt. Deswegen habe ich dieses Pseudonym Ria Airam gewählt, das die Buchstaben, die in meinem wirklichen Namen vorkommen, variiert. Ria – so sagen kleine Kinder zu mir, die den vollen Namen noch nicht aussprechen können. Airam ist die Umkehrung des Vornamens Maria. Durch dieses Pseudonym gewinne ich auch Distanz zu dem, was ich schreibe, weil ich damit nicht identifiziert werden möchte. Das ist fiktive Prosa, die nicht auf mich zurückzubeziehen ist.“

Der Prosaband enthält drei Erzählungen. Wie lange hast du daran gearbeitet?

Buch „Lucies Männer“  (Foto: Archiv von Maria Hammerich-Meier)
„Ich habe ungefähr ein Dreivierteljahr daran geschrieben, aber die Stoffe sind mir schon lange im Kopf herumgegangen. Denn das sind Themen und Motive, die ich teilweise schon in den 1980er Jahren und teilweise in den 1990er Jahren erlebt und aufgeschrieben habe. Jetzt habe ich die Zeit gefunden, das auszuarbeiten und in fiktive Personen und fiktive Situationen sozusagen zu gießen. Die Geschichten gibt es gewissermaßen schon lange, aber aufgeschrieben habe ich sie im vergangenen Jahr, und das hat ungefähr acht Monate gedauert.“

Die erste Erzählung heißt „Dorotka“. Darin geht es um die Beziehung zu einem kleinen Mädchen namens Dorotka. Steckt dahinter ein persönliches Erlebnis oder ist es rein fiktiv, wie du sagtest?

„Da sind schon auch Empfindungen, Gedanken, Erlebnisse verarbeitet, die ich selbst hatte. Ich erkläre kurz, worum sich die Geschichte dreht. Da geht es um eine Tiroler Lehrerin, die wie viele Tiroler sehr katholisch ist. Sie hat Vorfahren aus Böhmen. Nach der Wende knüpft sie wieder Kontakte zu ihren Verwandten, die dort leben. Sie entschließt sich, weil sie pensioniert ist, nach Böhmen zu ziehen und hier einen Zweitwohnsitz zu schlagen. Sie hat in der Nachbarschaft das kleine Mädchen Dorotka, mit dem sie manchmal spazieren geht. Eines Tages wird ihr bewusst, dass diese Dorotka gänzlich ohne Glauben aufwächst. Das verunsichert diese Tiroler Katholikin. Diese Geschichte thematisiert diese Situation in Europa heute, wo es Länder gibt, in denen der Glaube weitgehend abhandengekommen ist – auch in Deutschland. Ich stelle mir da die Frage: Wie geht das weiter? Ich denke, dass die Menschen das Bedürfnis haben nach metaphysischen Sicherheiten, nach einem ethischen Gerüst, nach Orientierung, auch nach Richtlinien, die ihr Verhalten regeln oder ihnen helfen können zu erkennen, was richtig und was falsch ist. Das Christentum geht zurück. Ich bin jetzt nicht auf der Linie, dass ich sagen würde, wir müssen das christliche Europa wieder herstellen. Europa ist noch teilweise christlich und wird es auch bleiben. Wir können nicht in die Vergangenheit zurück wollen. Diese Geschichte wirft die Frage auf, wie es in Europa weitergeht. Ich finde, dass wir eine Ethik bräuchten, mehr als das derzeit der Fall ist, die man vielleicht auch in den Schulen vermittelt, die Abhilfe schaffen kann angesichts dieses Vakuums, dieser Orientierungslosigkeit, die viele Menschen derzeit empfinden.“

Die zweite Erzählung heißt „Das Hündchen von Mama“. Die Hauptfigur ist ein Mann, der allein stehend ist und sich nur um den Hund kümmert, der seiner Mutter gehörte. Hast du jemanden ähnlichen getroffen? Worauf zielt diese Geschichte: Geht es da mehr um diese starke Mutterfigur, die dahinter steht?

„Starke Frauenfiguren haben mich auch an der tschechischen Kultur immer fasziniert.“

„Ja, da geht es um böhmisches Landleben, um die starke Mutterfigur im Hintergrund. Viktors Mutter stirbt, er bleibt aber an sie emotional gebunden. Seine Mutter lebt für ihn durch das Hündchen Bobina fort. Später stirbt auch das Hündchen, und dann erst nimmt Viktor von seiner Mutter richtig Abschied. Einerseits geht es da um die starke Frauenfigur – mich hat auch an der tschechischen Kultur immer fasziniert, dass die Frauen eine sehr starke Position haben, man identifiziert sie mit Eigenschaften wie Schönheit und Klugheit. Andererseits haben sie auch in der Familie eine starke Position. Es gibt da diese Archetypen in der mittelalterlichen Mythologie: Libussa, Šárka, Vlasta, also die böhmischen Amazonen, die ebendiese Eigenschaften besaßen. Ich denke, dass solche Archetypen in der Kultur weiter wirken. Das konnte ich hier an Menschen beobachten, die ich kennen gelernt habe.“

Maria Hammerich-Meier  (Foto: Archiv von Maria Hammerich-Meier)
Hast du derartige Frauentypen während deiner Aufenthalte hiezulande getroffen?

„Ja, schon. Ich habe sehr starke Frauen kennengelernt, und ich habe erlebt, dass in der Familie eben die Frau den Respekt genießt, eine starke Position haben auch bei den Männern. Das klingt in dieser Erzählung an.“

Die längste Erzählung oder eher Novelle nimmt zwei Drittel des Buches ein. Sie schildert, wie das kommunistische Regime einen Menschen zugrunde richten konnte, auch wenn dieser Mensch keine bedeutende Persönlichkeit war. Hast du hier etwas von deinen Erlebnissen verarbeitet, oder ist es eher eine Allegorie?

„Ich wollte Lesern aus westlichen Ländern Einblick geben, wie totalitäre Regime der neueren Zeit arbeiten.“

„In der Novelle verarbeite ich Beobachtungen, Erfahrungen und Erlebnisse, die ich gehabt habe, sowie Sachen, die mir von meinen Bekannten erzählt wurden. Die Hauptperson Gregor Vrey ist ein Mann aus dem Volk, keine bekannte Persönlichkeit. Wir haben ja oft im Westen davon gehört, dass irgendwelche Schriftsteller, Intellektuelle verfolgt wurden, aber dies ist ein Mann aus der Mitte des Volkes. Ich möchte zeigen, dass auch solche ganz gewöhnliche Menschen unter dem kommunistischen Regime zu leiden hatten. Gregor Vrey ist ein Busfahrer, er fährt hin und wieder in den 1980er Jahren mit seinen Gruppen auch in den Westen und gerät in Verdacht, etwas zu tun, was als staatsfeindlich einzustufen wäre. Dann beginnt diese Maschinerie der Repressalien anzulaufen, und wenn sie mal angelaufen ist, geht das immer weiter – und in dem Fall endet sie mit seinem sehr verfrühten Tod. Er stirbt, und ist gerade um 30 Jahre alt. Mit der Geschichte möchte ich Lesern aus westlichen Ländern bewusst machen und ihnen einen Einblick geben, wie solche totalitären Regime der neueren Zeit arbeiten, wie die Unterdrückung von Menschen in der täglichen Praxis aussehen kann. Das ist nur ein Beispiel, es gibt viele Spielarten der Unterdrückung. Ich bearbeite in der Geschichte einiges, was ich in den 1980er Jahren in der Tschechoslowakei gehört habe. Ich möchte darauf hinweisen, dass solche Unterdrückungsmechanismen auch sehr unauffällig wirken können. Man merkt sie kaum, selbst die Menschen im eigenen Lande nehmen sie nicht richtig wahr. Diese Einschränkung der persönlichen Freiheit wirkt sich sehr schmerzhaft aus und kann Menschen wirklich zerstören. Ich denke, dass die Geschichte auch heute aktuell ist, weil es immer noch viele totalitäre Staaten gibt. Wir sind mit dem Fall des Kommunismus vor solchen Methoden der Einschränkung der persönlichen Freiheit nicht gefeit. Das kann uns auch wieder zustoßen in Europa, und das passiert anderswo in der Welt. Ich nenne diese Novelle eine Allegorie, weil ich das systemtypische Böse, das ich da beschreibe, für die Spätphase der kommunistischen totalitären Systeme in einer Person verdichte. Das ist der Gustav Oblud. Deswegen steht im Untertitel dieser Novelle ‚die Allegorie‘.“

Maria Hammerich-Meier  (Foto: Archiv von Maria Hammerich-Meier)
Der Name Oblud ist vermutlich vom tschechischen Wort „obluda“ abgeleitet. Stimmt das?

„Den Namen habe ich so gewählt, denn obluda bedeutet so viel wie das Monster, das verkörperte personifizierte Böse.“

Für einen deutschsprachigen Leser, der nicht Tschechisch kann, bedeutet der Name aber nichts.

Gab es, oder wird es noch Lesungen und Präsentationen deines Prosabandes geben?

„Nein, aber es ist für ihn vielleicht eine Motivation, mal nachzuschauen, was das Wort bedeutet.“

Karlsuniversität in Prag  | Foto: Kristýna Maková,  Radio Prague International
Hattest du die Möglichkeit vor der Wende, in die Tschechoslowakei zu reisen?

„Ich bin in den 1980er Jahren in der Tschechoslowakei mehrmals zu Sommerschulen nach Brünn und Prag gefahren. Ich habe 1985 zudem ein halbes Jahr an der Karlsuniversität in Prag verbracht und hatte damals als junge Frau noch sehr wache, scharfe Augen, habe sehr viel beobachtet und mir Gedanken gemacht. So konnte man schon Einblick bekommen, wenn man hinsah, und sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten sehen. Für mich war das damals eine sehr tiefe Erfahrung, die mich auch erschüttert hat. Etwas von diesen Erlebnissen habe ich in dieser Novelle bearbeitet.“

„Verhaltensmuster aus der kommunistischen Zeit pflanzen sich fort.“

Ich meine, dass die ältere Generation durch das Leben im kommunistischen System bis heute beeinflusst ist. Es ist beispielsweise auch daran zu sehen, dass sich viele Menschen nicht trauen, ihre Meinung offen zu sagen. Hast du diese Erfahrung auch gemacht?

„Ja. Ich habe nach 1990 in der Tschechoslowakei und dann in Tschechien an den Hochschulen Deutsch unterrichtet und versucht, damals mit den Studenten zu diskutieren. Da habe ich gesehen, wenn ich politische Themen anschnitt, dass die Studenten es nicht wagten, wirklich etwas zu sagen. Das habe ich auch so erfahren. Ich glaube, diese Scheu, sich frei zu äußern, lebt weiter. Aber es leben auch andere Verhaltensmuster weiter, das beobachte ich immer wieder. Deswegen finde ich diese Geschichte sehr aktuell, weil sich in allen Staaten die Geschichte fortpflanzt. Was einmal etabliert ist, was sich in einer Gesellschaft festgesetzt hat, reproduziert sich. Gewisse Verhaltensmuster, die in der kommunistischen Zeit entstanden sind, pflanzen sich fort, und man hat heute noch mit ihnen zu tun.“

Maria Hammerich-Meier  (links). Foto: Archiv von Maria Hammerich-Meier
Ist der Prosaband „Lucies Männer“ dein erstes Buch, oder hast du schon vorher etwas geschrieben und vielleicht auch veröffentlicht?

„Ich habe vor zehn Jahren einen Lyrikband herausgebracht. Er hieß Prager Motive in Fotos und Poesie. Da sind Gedichte enthalten, die in Prag entstanden sind. Ich muss sagen, dass keine andere Stadt, kein anderer Ort mich so sehr inspiriert, Lyrik zu schreiben, wie Prag. Es hat eine ganz eigene Atmosphäre, die jeder empfindet, und bei mir wirkt sich das so aus, dass da auch Poesie entsteht, wenn ich in Prag spazieren gehe. Ich habe zudem Erzählungen und Übersetzungen aus tschechischer Literatur in Zeitschriften veröffentlicht. ‚Lucies Männer‘ ist mein zweites selbständiges Buch, aber ich habe vor, in den nächsten Jahren noch weitere Bücher herauszubringen, weil ich gerade in der Lebensphase bin, in der man nach vorne blickt. Man sagt: ‚Ich habe also noch so und so viele Jahre und Jahrzehnte Zeit.‘ Dann konzentriert man sich und sagt, dass man das, was man noch machen möchte, jetzt in Angriff nehmen muss. Ich habe fest vor, viele solche Stoffe, die ich auf meinem Computer gespeichert habe, jetzt auszuarbeiten und zu publizieren. Ich denke, dass sehr bald auch ein weiteres Buch kommen wird.“

Foto: Kristýna Maková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Hat sich deine Arbeit beim Rundfunk auf deine literarische Tätigkeit ausgewirkt? Du hast nicht nur für Radio Prag, sondern auch für die Kulturredaktion bei den Inlandsendungen gearbeitet…

„Das war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich würde sagen, dass sich meine Rundfunkarbeit auf meine literarische Arbeit ausgewirkt hat. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Rundfunkarbeit machen durfte. Ich habe damals Disziplin gelernt.“

Das Buch „Lucies Männer“ ist im kleinen niederösterreichischen Verlag Driesch in Drösing erschienen, das nahe der Grenze liegt. Ist das ein Zufall?

„Dieser Verlag hat seinen Sitz ganz nahe der slowakischen und tschechischen Grenze. Das ist auch die Gegend, aus der ich stamme. Als ich entdeckte, dass es da einen Verlag gibt und dass dort auch eine Kulturzeitschrift erscheint, habe ich begonnen, da mitzuarbeiten, weil es für mich eine Art Rückkehr in meine Heimat war. Das ist sehr schön, wenn man eine solche Brücke schlagen kann. Ich bin schon ein Vierteljahrhundert aus Österreich weg. Das ist eine Art Synthese meines bisherigen Lebens gewesen, und deswegen habe ich diesen Verlag gewählt. Die Mitarbeit bei der Kulturzeitschrift, die auch ‚Driesch‘ heißt, hat mir sehr geholfen, Selbstbewusstsein als Autorin zu gewinnen.“

Maria Hammerich-Meier  (Foto: Archiv von Maria Hammerich-Meier)
Gab es, oder wird es noch Lesungen und Präsentationen deines Prosabandes geben?

„Ich hatte eine Präsentation, als das Buch im Februar erschien, in Oberfranken, wo ich jetzt lebe. Das war im Kunstverein Hof. Ich denke, das Buch ist gut aufgenommen worden, es war ein sehr schönes Erlebnis für mich. Ich plane weitere Lesungen für den Herbst: in Wien und in Franzensbad. Zudem bin ich in Selb eingeladen, das Buch nächstes Jahr zu präsentieren. Es ist schön, gegenüber dem Publikum zu sitzen und mit Fragen konfrontiert zu werden. Jede Frage zwingt mich nachzudenken und bringt mich voran.“


Die nächste Lesung aus „Lucies Männer“ wird im Rahmen einer Foto- und Lyrikausstellung stattfinden, die Ausstellung läuft vom 7. Oktober. bis 3. November 2015 in der Galerie auf der Pawlatsche in Wien.