„Kein Mensch“ – Schöpfer des Prager Stalin-Denkmals als tragischer Held in neuer Oper

Oper „Kein Mensch“ (Foto: Patrik Borecký)

Es müssen nicht immer Klassiker sein wie „Don Giovanni“ oder „die Verkaufte Braut“. Auf der Neuen Szene des Prager Nationaltheaters läuft seit Freitag eine zeitgenössische Oper. Entstanden ist sie in tschechisch-deutscher Zusammenarbeit. Es geht um das Schicksal des Bildhauers, der einst das monumentale Stalin-Denkmal auf der Prager Anhöhe Letná geschaffen hat. Sie hören einen Beitrag von Martina Schneibergová und Till Janzer.

Oper „Kein Mensch“  (Foto: Patrik Borecký)
Die Oper stammt aus der Feder von Jiří Kadeřábek und heißt Žádný člověk (Kein Mensch). Im Mittelpunkt des Stücks steht der Bildhauer Otakar Švec. Er schuf das Stalin-Denkmal, das am 1. Mai 1955 auf der Prager Letná-Höhe enthüllt, aber nach nur sieben Jahren wieder gesprengt wurde. Die Einweihung erlebte der Künstler nicht mehr, einige Tage zuvor nahm er sich das Leben.

Dieses dramatische Schicksal, aber auch weitere Aspekte der damaligen Zeit, hat Jiří Kadeřábek in musikalische Form gegossen. Dabei musste der Komponist berücksichtigen, dass ein großes Orchester in der Neuen Szene keinen Platz hat:

„Der erste Teil klingt zwar wie eine traditionelle Oper. Aber all das, was eine Oper ausmacht, haben wir vorher aufgezeichnet. Für mich gehören dazu das Orchester, der Chor und der massive Klang. Das kann sich aber nur eine große Bühne erlauben. Die Aufzeichnung spielen wir im Surround-Sound ein. Dieses elektronische Klangelement wird durch fünf Schauspieler und Sänger ergänzt. Das ist dann das Live-Element.“

Musikalische Grenzüberschreitung

Oper „Kein Mensch“  (Foto: Patrik Borecký)
Insgesamt hat die Oper drei Teile. Der mittlere ist ohne Gesang. Im dritten Teil gehe das Werk in apokalyptische oder postapokalyptische Science Fiction über, sagte der Dramaturg Lukáš Jiřička bei der Pressekonferenz zur Inszenierung. Und Jiří Kadeřábek ergänzte:

„Der letzte Teil nutzt in großem Maß sehr typische Phänomene in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts wie Sprechgesang oder Voice Band. Die harmonische Verankerung fehlt, die einzelnen Elemente sind auch in ihrer Länge frei. Sie können so lange dauern, wie es zu dem Geschehen auf der Bühne passt. Auch in der Interpretation besteht eine gewisse Freiheit. Das alles stellt hohe Anforderungen an das Ensemble, das auf der Bühne steht, aber vor allem an die Sänger.“

Eliška Gattringerová  (Foto: Patrik Borecký)
Angesprochen ist da beispielsweise Eliška Gattringerová. Sie ist als Sopranistin in der Oper zu hören:

„Für jemanden wie mich, der mit der Musik des 20. Jahrhunderts nicht so viel Erfahrung hat, war schon das Aufschlagen der Noten eine unerhörte Überraschung. Ich habe das von Anfang an als große Herausforderung genommen und bin froh, dass wir das gemeistert haben. Einerseits muss man sich vom Belcanto befreien, andererseits gehört er auf bestimmte Art auch wieder dorthin, wenn wir beispielsweise nur einfach ‚B‘ singen oder Wortfetzen. Weil es keine Arien sind, ist es unglaublich schwer, das stimmlich so zu erfassen, dass es für die Hörer interessant klingt und zugleich die Singbarkeit erhalten bleibt.“


Bei der Oper Regie geführt hat Katharina Schmitt. Sie lebt zur einen Hälfte in Berlin und zur anderen in Prag. Martina Schneibergová hat nach Vorstellung der Oper bei einer Pressekonferenz in Prag die Möglichkeit gehabt zu einem Gespräch mit Katharina Schmitt:

Frau Schmitt, wie ist die Idee entstanden, eine derartige Oper zu machen?

„Dann wird die Statue enthüllt, und sofort ist klar, dass mit der Abkehr vom Personenkult um Stalin auch diese Statue wieder weg muss.“

„Die Idee ist entstanden, als der künstlerische Leiter der Oper am Nationaltheater, Petr Kofroň, einen Zyklus neuer Opern ins Leben gerufen hat. Er hat unseren Dramaturgen Lukáš Jiřička angesprochen, der dann wiederum den Komponisten Jiří Kadeřábek und mich zusammengeführt hat. Zu dritt haben wir dann überlegt, was unser Thema sein könnte. Für mich war es ganz wichtig, für das Nationaltheater ein Thema zu behandeln, das mit Prag zu tun hat. Ich selbst habe ja hier studiert, und daher ist es wirklich ein Traum für mich, am Národní divadlo eine Oper zu schreiben und zu realisieren. Gleichzeitig ist es einem Zufall geschuldet: Ich hatte kurz vorher das Buch ,Der Fall Stalin‘ von der tschechischen Historikerin Hana Píchova gelesen. Diese historische Studie ist begleitet von vielen Fotos und beschreibt den Bau und die Zerstörung des Stalin-Denkmals. Als ich auf dieses Buch gestoßen bin, dachte ich sofort: Das ist ein Thema für eine Oper! Es behandelt viele große Themen, wie die Geschichte von Otakar Švec, dem Bildhauer, der gegen seinen Willen den Wettbewerb gewinnt und dann eine Stalin-Statue bauen muss. Daraufhin wird er von seinen Freunden gemieden, seine Frau begeht Selbstmord, Stalin stirbt – und zuletzt tötet er sich selbst kurz vor der Fertigstellung der Statue. Dann wird die Statue enthüllt, und sofort ist klar, dass mit der Abkehr vom Personenkult um Stalin auch diese Statue wieder weg muss. Da gibt es einfach ganz viele Themen, die sich gut für eine Oper eignen: die Verantwortung des Künstlers oder die Frage der Ideologien des 20. Jahrhunderts und ihren Einfluss auf heute. Das ist in vielerlei Hinsicht ein sehr dankbarer Stoff.“

Katharina Schmitt und Jiří Kadeřábek  (Foto: Martina Schneibergová)
Sie haben auch das Libretto geschrieben. Die Oper soll aus drei Teilen bestehen. Hat das tragische Schicksal des Bildhauers mehr Gewicht in dem Stück oder der Bau des Monuments?

„Es gibt drei Teile. Der erste ist eher klassisch gehalten. Dort geht es in der Hauptsache um das Schicksal von Otakar Švec, das ist fast wie im antiken Drama: ein Künstler, den sein Werk zerstört und der sich schlussendlich selbst tötet. Dieser Teil dauert etwa 50 Minuten. Der zweite Teil ist ohne Text und wirklich wie die Explosion der Statue. Der dritte Teil ist eine ganz andere Art von Text und Narrativ, er ist auch nur 20 Minuten lang. Ich würde sagen, dass die thematische Gewichtung etwa 50-50 ist. Einerseits geht es tatsächlich um ein Künstlerschicksal, aber wir wollten nicht nur bei einem Privatmann bleiben, sondern das Werk auch für heutige soziale Fragen öffnen. Was machen wir mit Orten wie dem Letná-Park? Was bedeutet die Nichtexistenz dieser Stalinstatue für uns heute in Prag?“

Hatten Sie von diesem Denkmal bereits gehört, bevor sie nach Prag gekommen sind?

„Ich bin mit 19 Jahren nach Prag gezogen. Vorher hatte ich noch nichts davon gehört. Dann wusste ich schon, dass da eine Stalin-Statue gestanden hat und dass dieser Švec echt Pech gehabt hat. Sonst habe ich aber nicht viele Details gekannt.“

„In der Geschichte von Otakar Švec ist sehr stark zu erkennen, welch traurige, harte und depressive Zeit diese 1950er Jahre waren.“

Bei der Pressekonferenz wurden die vielen Zeitzeugen aus den 1950er Jahren angesprochen. Es war eine Zeit, die für viele ja die schlimmste überhaupt war. Sprechen Sie auch die Frage an, was diese Ära für die Menschen bedeutet?

„Ja. Wir haben uns bemüht, auch dieses Thema zu behandeln. Das ist ja auch im Gespräch aufgetaucht: Die Frage nach dem unterdrückten Trauma und wie es immer wieder hochkommt. Einerseits ist im ersten Teil der Oper, in der Geschichte von Otakar Švec, sehr stark zu erkennen, welch traurige, harte und depressive Zeit diese 1950er Jahre waren. Im dritten Teil, der sich eher den abstrakteren sozialen Fragen nähert, geht es dann darum, wie diese Traumata nach oben gespült werden.“

Oper „Kein Mensch“  (Foto: Patrik Borecký)
Ist es Ihre erste Opernregie?

„Nein, es ist bereits meine zweite Regie. Ich habe bereits im vergangenen Jahr die Eröffnung der ‚Tage der neuen Oper‘ in Ostrava inszeniert. Das war eine Oper von György Ligeti. Im Moment bereite ich noch eine weitere Opernregie in München vor, es handelt sich um ein Stück des tschechischen Komponisten Ondřej Adámek, der bereits seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Ich freue mich sehr, dass ich mich im Moment so stark der Oper widmen kann.“

Werden auch die deutschen Zuschauer diese Oper zu sehen bekommen?

„Ja. Wir werde im Herbst in Bremen, meiner Heimatstadt, mit Unterstützung des Goethe-Instituts, die Oper im dortigen Theater aufführen. Ich freue mich wahnsinnig, dass es in Bremen zu sehen sein wird, weil ich so selten Gelegenheit habe, dort Arbeiten zu zeigen, die ich hier in Prag gemacht habe.“

Woran arbeiten Sie aktuell und in den nächsten Monaten?

„Das allernächste ist ein Hörspiel für den Tschechischen Rundfunk-Vltava, zu dem ich auch den Text schreibe. Dabei geht es um die Träume von blinden Menschen. Danach mache ich eine kleine Arbeit im Studio Hrdinů. Und zwar Franz Kafkas ,Bericht für eine Akademie‘. Und danach kommt die Oper in München mit Ondřej Adámek.“