Gemeinsamkeiten: Auf den Spuren tschechischer und deutscher Weihnachts- und Volkslieder

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Häufig heißt es: „Musik kennt keine Grenzen“. Beweise dafür gibt es in Hülle und Fülle, so gilt das sogar für die Weihnachtslieder, obwohl diese von jedem Volk als etwas Eigenes wahrgenommen werden. Über die gegenseitigen tschechisch-deutschen Einflüsse in der Musik hat ein Wissenschaftler aus Prag geforscht. Im Folgenden mehr dazu.

Lubomír Tyllner | Foto: Hynek Bulíř,  Tschechischer Rundfunk
Der tschechische Musikwissenschaftler Lubomír Tyllner forscht über die deutschsprachige Volkskunst in Böhmen und Mähren. Viele Studien hat er zu diesem Thema bereits herausgegeben, einige von ihnen wurden auch in deutschsprachigen Ländern oder in Großbritannien publiziert. Laut Tyllner liegt es auf der Hand, warum sich zwei benachbarte Kulturen gegenseitig beeinflussen. Die historischen Kronländer Böhmen und Mähren stellten dabei keine Ausnahme dar:

„Wenn zwei Völker Jahrhunderte lang in einem Land leben, nebeneinander oder auch miteinander, kommt es logischerweise zur gegenseitigen Beeinflussung ihrer Kulturen. Man denke zum Beispiel an gemischte Ehen oder an die unzähligen Gemeinden mit tschechisch- und deutschsprachigen Bewohnern. Gleichzeitig aber muss man sagen, dass die Tschechen, die zudem seit jeher in der Nachbarschaft der großen Nation lebten, ihre eigene Kultur pflegten, und die hierzulande lebenden Deutschen die ihrige.“

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Da die Grenzen zwischen den Ethnien und Sprachen fließend waren, wirkten sie nicht wie ein Hindernis. In der Musik sowieso nicht. Und das sogar bei Weihnachtsliedern:

„Es gibt viele dieser Lieder, die wir Tschechen gemeinsam mit den Deutschen haben. Dazu braucht man nur kurz im ´Buch der Weihnachtslieder´ zu blättern, verfasst und 1982 herausgegeben von der deutschen Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann. Man findet zum Beispiel Anmerkungen zum Lied ‚Es ist ein Ros´ entsprungen‘, das hierzulande unter dem Titel ‚Vykvetl kvítek z růže‘ bekannt ist. Es wird vor allem von Protestanten gerne gesungen. Und hier habe ich ein weiteres Lesezeichen. Das ist ‚In dulci jubilo‘. Das Lied hat offenbar einen lateinischen Ursprung, wird aber auch mit einem deutschen Text gesungen. Blättern wir weiter. ‚Kommet ihr Hirten‘. In der landesweit bekannten tschechischen Version singen wir ‚Wir bringen euch neue Nachrichten‘ (‚Nesem vám noviny‘, Anm. d. Red.). Es handelt sich um eines der tschechischen Lieder, die in die deutsche Tradition aufgenommen wurden. Irgendwann hat jemand einen deutschen Text auf das tschechische Original verfasst. Die Musikwissenschaftler nennen dieses Vorgehen eine ‚Kontrafaktur‘. In Österreich ist es eines der beliebtesten Weihnachtslieder.“

Ähnlich sei es bestellt um das bekannteste tschechische Weihnachtslied „Narodil se Kristus pán“ (Geboren ist Christus, der Herr). Lubomír Tyllner:

„Eines unserer bekanntesten Weihnachtslieder haben die Deutschen selbstverständlich auch. Ingeborg Weber-Kellermann schreibt in ihrem Buch, dass seine älteste bekannte Fassung aus einem böhmischen Gesangsbuch stamme. An dieser Stelle will ich sagen, dass man allgemein vom wechselseitigen Beeinflussen tschechischer und deutscher Weihnachtslieder sprechen kann. Damit möchte ich die Ansicht einiger deutscher Musikwissenschaftler, die ich ansonsten sehr schätze, etwas korrigieren. Zum Beispiel Karl Michael Komma, der die Bedeutung des deutschen Elements für die tschechische Kultur etwas überwertet hat. Sein Blickwinkel ist nicht ganz objektiv und steht wahrscheinlich unter dem Einfluss einiger Theorien der Vorkriegszeit.“

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Selbstverständlich lassen sich nicht nur bei den Weihnachtsliedern interkulturelle Übernahmeprozesse finden. Allerdings bestehen auch Bereiche, in denen es nicht zu einer tschechisch-deutschen Annäherung gekommen ist:

„Zum Beispiel in Mähren. Getragene Melodien, wie sie in mährischen Liedern so typisch sind, lassen sich im deutschen Liedgut nicht finden. Die sogenannten Dreher jedoch aus den Regionen Böhmerwald, Westböhmen und dem Chodenland ähneln stark den deutschen Liedern. Anders gesagt, die Ähnlichkeit hängt von der Lage der jeweiligen Region sowie von den unterschiedlichen interregionalen Bindungen ab. Es gibt Regionen, die im Laufe der Zeit eher eine Bindung gen Ost oder Norden aufgebaut haben. Das trifft zum Beispiel auf Nordostmähren zu, wo tschechisch gesungene Lieder auch polnische Einflüsse etwa aus der masurischen Musik oder durch die Polonaise-Melodien haben.“

Maultrommeln  (Foto: Andreas Schlütter,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Parallel zur Musik sind auch Musikinstrumente zu grenzüberschreitenden Mittlern der Volkskultur geworden. Einige der Instrumente sind heutzutage in Tschechien kaum noch oder gar nicht mehr bekannt:

„Zum Beispiel ‚grumle‘, auf Deutsch die Maultrommel. Sie ist eines der kleinsten Musikinstrumente. Das Zentrum ihrer Herstellung war seit je im oberösterreichischen Molln. Aber auch in Böhmen gab es Schmiede, die dieses Instrument herstellen konnten. Ähnliches gilt zum Beispiel für die Zither, die sich insbesondere in Österreich und in Bayern großer Beliebtheit erfreut hat. Das Zentrum der Herstellung lag aber in Schönbach (heute: Luby, Anm. d. Red.) in Böhmen. Die Zither war allerdings auch bei der tschechischsprachigen Bevölkerung beliebt, und das Spiel auf diesem Instrument wurde seinerzeit auch auf tschechischen Musikschulen unterrichtet“, sagt Tyllner.

Zither  (Foto: Jan Folprecht,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Die Zither ist allerdings ein Beispiel dafür, dass auch ein Musikinstrument vom politischen Schicksal getroffen werden kann. Die Zither als ein Symbol des Bösen:

„Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Zither hierzulande wegen negativer Assoziationen abgelehnt. Sie erinnerte viele Menschen an die Habsburger Monarchie - die ‚Germanisierungshydra‘, wie sie im 19. Jahrhundert von tschechischen Patrioten bezeichnet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zither sogar verboten, und die Besitzer eines solchen Instruments mussten es abgeben. Das hing mit dem politischen Schicksal der Sudetendeutschen zusammen. Mit ihrer Vertreibung aus der Tschechoslowakei verlor sich auch die Zither aus der Kulturtradition unseres Landes.“

„Mateník“  (Foto: YouTube)
Neben Musik und Musikinstrumenten findet man in den tschechisch-deutschen Grenzregionen auch Volkstänze, die zweifelsohne Gemeinsamkeiten aufweisen. Zum Beispiel der „Mateník“ in Ostböhmen und der „Zwiefache“ in Sachsen. Das ist aber bereits ein eigenständiges Thema aus der tschechischen Kulturgeschichte.