Anarchie und Aufbruch: Jaroslav Kučeras Fotos aus den Sudeten

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Es war kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als sich der Fotograf Jaroslav Kučera in das sogenannte Sudetenland aufmachte. Er traf auf einen Landstrich, gezeichnet von Armut und Verfall. Mit der Kamera dokumentierte Kučera die Abgehängten und Vergessenen, aber auch diejenigen, die versuchten, Schritt zu halten mit der neuen Zeit. Die Bilder zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruchsstimmung sind derzeit in Prag zu sehen.

Ausstellung „Sudety“  (Foto: YouTube)
Jaroslav Kučera gehört in Tschechien heute zu den bekanntesten Dokumentarfotografen und wurde mehrfach ausgezeichnet. Seine Ausstellung „Sudety“ (Sudeten) in der neu eröffneten Czech Photo Gallery versammelt Aufnahmen, die in den 1990er Jahren entstanden sind, die ersten direkt nach der Wende.

„Es begann im Jahr 1990, als ich für einen Reportage-Auftrag der damals neuen Zeitschrift ‚Reflex‘ dorthin gefahren bin, in ein Dorf namens Strupčice (Trupschitz, Anm. d. Red.). Als ich sah, wie schlimm es dort aussieht, haben der Redakteur und ich uns entschlossen, diesen Zustand festzuhalten.“

Jaroslav Kučera  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Aus dem gemeinsamen Projekt mit dem Journalisten wurde zwar nichts. Doch Kučera begann, die Orte zwischen Mariánské Lázně / Marienbad und Děčin / Tetschen systematisch zu bereisen und zu fotografieren. Mehrere Ausstellungen entstanden schon damals, unter anderem für die Galerie G4 in Cheb / Eger. Er sei damals schockiert und fasziniert zugleich gewesen, sagt der Fotograf.

„Angezogen hat mich die Gegend schon früher, ich komme ja selbst aus Nordböhmen, von der Grenze zwischen Nord- und Mittelböhmen. Dennoch war es wirklich ein Schock für mich, als ich nach Strupčice gekommen bin. Dieses Dorf sieht schrecklich aus, traurig, aber es lebten dort Menschen! Für mich als Fotograf, der sich vor allem für die soziale Fotografie am Rande der Gesellschaft interessiert, war es eine unglaubliche Gelegenheit, und mir hat es extrem gut gefallen, damit zu arbeiten.“

Zerstörte Landschaft und Sextourismus

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
Kučeras Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen spielende Kinder im verwahrlosten Roma-Ghetto Chanov bei Most / Brüx. Einen Greis im Armenhaus von Luby / Schönbach. Prostituierte, die am Straßenrand von Cheb auf Kundschaft warten. Einen Jugendlichen beim Klebstoff-Schnüffeln und Arbeiter der verbliebenen Staatsbetriebe. Sehr häufig schiebt sich auch die Landschaft in den Vordergrund, oder das, was davon übrig ist: verfallene Häuser und Kirchen, verwitterte Denkmäler, verödete Felder.

„Aus den Sudetengebieten wurden drei Millionen Menschen vertrieben, Deutsche, deren Vorfahren schon Jahrhunderte dort ansässig waren. Danach kam eine völlig gemischte Gesellschaft in diese Grenzgebiete. Natürlich waren auch anständige Leute darunter, aber insgesamt… Wohin sonst als zur Zerstörung hätte das alles führen sollen, dazu noch während der Zeit des Kommunismus? Die Landschaft wurde ja ganz systematisch zerstört, dort wurde Kohle abgebaut und noch viele andere Dinge. Und nach 1990 boomte dann der Sextourismus. Denn die Prostituierten aus dem Osten waren viel billiger, und die Deutschen fuhren natürlich über die Grenze. Das waren alles Phänomene, die es woanders in diesem Ausmaß überhaupt nicht gab.“

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
Es ist eine bunt zusammengewürfelte Bevölkerung in dem Gebiet, das vormals hauptsächlich Deutsche bewohnt hatten. Viele von Kučeras Protagonisten hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg gegen den eigenen Willen in die Grenzregion verschlagen. Darunter Roma, die während des Kommunismus massenweise in die leerstehenden Häuser umsiedelt wurden, oder auch Ordensschwestern, die ihr Prager Kloster verlassen mussten und stattdessen in die Peripherie geschickt wurden. Nach der Wende kamen diejenigen hinzu, die sich von den deutschen Sextouristen das schnelle Geld erhofften und einen „Night Club“ neben dem anderen eröffneten. Bis Kučera Fotos schießen konnte, musste er oft viel Zeit mit den Protagonisten verbringen:

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
„Ich musste mich zum Beispiel mit den Betreibern dieser sogenannten Bars, mit den Zuhältern und natürlich mit den Mädchen anfreunden. Manchmal hat es geklappt, manchmal nicht. Wichtig war die Kommunikation. Es ging mir darum, die Prostituierten nicht zu beleidigen und sie auch nicht für einen Artikel in einer Zeitschrift zu missbrauchen. Oft waren es Ukrainerinnen, völlig rechtlos, die sich ohne Pass in diesen Night Clubs wiederfanden. Es wäre schlimm gewesen, ihre Würde zu missbrauchen. Obwohl es sie nicht gestört hat, sind die Bilder auch frivol. Vor allem aber sind meine Fotos kommunikativ, es ist erkennbar, dass der Fotograf dabei ist – und damit sind sie, denke ich auch nicht so verletzend.“

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
Eine Bewertung wollte Kučera mit seinen Bildern nicht vornehmen. Es sei ihm nicht darum gegangen, Schönheit oder Hässlichkeit zu zeigen, sondern darum, die Realität abzubilden. Dass es sich dabei lediglich um Ausschnitte handelt, eine künstlerische Annäherung, werde bis heute oft missverstanden. Vor allem die Bewohner der Grenzgebiete fühlten sich verunglimpft.

„Der Titel ist ein wenig irreführend. Die Ausstellung sollte vielleicht eher heißen: Auch so sind die Sudeten. Oder: Auch so sind einige Leute im Sudetenland. Ich denke, das wäre wohl zutreffender. Aber ich habe das schließlich bei ‚Sudetenland‘ belassen. Jetzt beschimpfen mich naürlich viele Leute, sie sagen: Gerade so sind die Sudeten oder das Grenzgebiet eben nicht, es sei schön dort, es gebe doch die Bäder, die wunderbaren Berge! Das bestreite ich ja auch gar nicht. Aber ich bin Kučera, ich fotografiere schon mein Leben lang die Menschen, und ich mag ihre Geschichten. Auch wenn es Fotos von den ärmeren Schichten sind, so sind es doch liebevolle Fotografien.“

Den Breschnew an die Deutschen verkauft

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
Kučera musste damals schnell sein, denn seine Bilder zeigen eine teils fast anarchisch anmutende Phase des Übergangs zwischen einer alten und einer neuen Zeit. Da wird zum Beispiel auf einer völlig verwitterten Plakatwand in Výškov / Wischkowa ein „Meeting“ mit Václav Klaus angekündigt, dem Vater der tschechischen Transformation hin zur freien Marktwirtschaft. In einer Kneipe in Strupčice traf Kučera dagegen zwei Männer, die ihm ein Relikt des kommunistischen Regimes präsentierten: ein Großportrait von Leonid Breschnew.

„Zu der Zeit war das schon ein Spaß. 1990/ 91 war das. Wir saßen da in dieser Kneipe, tranken Bier und unterhielten uns prächtig. Da meinte einer der beiden: Ich muss dir was zeigen. Und brachte diesen Breschnew. Dieses Plakat hatten sie jedes Jahr bei den Umzügen zum ersten Mai tragen müssen. Ein Jahr später kam ich wieder in dieses Wirtshaus. Die Jungs saßen da und ich fragte: ‚Na, wo habt ihr Breschnew?‘ Sie sagten: ‚Den haben wir den Deutschen verkauft, für 20 Mark.‘ Denn damals fing man an, diese kommunistischen Reliquien zu sammeln, also schlaue Leute begannen das zu sammeln, wirklich, und man sagte sich: Nur keinen Lenin wegschmeißen, alles aufheben! Das ist alles charakteristisch für die Zeit. Das wird mal wertvoll, weil es zeigt, welche Zeit das war. Was für ein Absurdistan.“

Foto: Jaroslav Kučera,  Archiv CZECH PHOTO o.p.s.
Viele nutzten damals die Gelegenheit, stellten sich mit Hirschgeweihen oder Billigspielzeug an den Straßenrand, um selbst von den offenen Grenzen und dem freien Markt zu profitieren. Was aus diesen Kleinunternehmern der ersten Stunde geworden ist, weiß Kučera nicht. Doch wenn er heute in die Grenzgebiete fährt, springen ihm die Veränderungen ins Auge:

„Nach zwanzig Jahren war ich wieder in dem Ort, in dem ich Gazdo Surmaj, das Oberhaupt einer Zigeunerfamilie, fotografiert hatte. Die älteren Menschen sind jetzt alle tot, die jüngeren sind woanders, das Dorf ist wunderbar, neue Straßen, neue Schulen, neue Parks, ringsherum stehen neue Häuser, es sieht im Gegensatz zu damals sehr schön aus. Weiter bin ich nicht gefahren, denn ich habe mir gesagt: Das werde ich nicht mehr fotografieren. Das hat keinen Wert. Aber ich würde sicherlich Orte finden, wo auch heute noch Armut herrscht.“


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Die Ausstellung „Sudety“ (Sudeten) von Jaroslav Kučera ist bis zum 15. Januar zu sehen, und zwar im Czech Photo Centre gleich bei der Metrostation Nové Butovice. Der Eintritt kostet 50 Kronen. Zur Ausstellung ist auch ein Bildband mit Texten auf Tschechisch und Englisch erschienen.

www.czechpressphoto.cz/cpc

Autor: Annette Kraus
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