Nationenbildung auf Schienen oder: Das Eisenbahn-Paradox der Ersten Republik

Verbindungslinie zwischen Handlová und Horná Štubňa 1931 (Foto: Archiv MDC Bratislava)

Tschechoslowakismus, so bezeichnet man die politische Konzeption eines einheitlichen Staatsvolks von Tschechen und Slowaken in der Ersten Republik von 1918 bis 1938. Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Prozess die Eisenbahn: Neue Strecken zwischen den böhmischen Ländern und dem slowakischen Landesteil sollten die neuen Staatsbürger einander näher bringen – geographisch und mental.

Rudolf Bechyně  (Foto: Public Domain)
Oktober 1937, Vsetín in Ostmähren. Eisenbahnminister Rudolf Bechyně ist persönlich angereist, um das zweite Gleis zwischen Černotín und Horní Lideč für den Verkehr zu eröffnen. Eine relativ kurze Strecke, unbedeutend, könnte man heute meinen. In seiner Rede allerdings wird der Minister grundsätzlich: Näherbringen und verbinden wolle man Tschechen, Mährer und Slowaken durch ein immer engmaschigeres Eisenbahnnetz. Für den jungen Staat in Mitteleuropa war dieser Ausbau viel mehr als nur ein Verkehrsprojekt, sagt der Historiker Felix Jeschke. In seiner Doktorarbeit „Iron Landscapes“ hat er die politische Bedeutung der Eisenbahn in der Ersten Republik untersucht.

„Das Problem für die Tschechoslowakei nach 1918 war, dass es kaum Verbindungen zwischen der Slowakei und den böhmischen Ländern gab. In den böhmischen Ländern war das Netz sehr dicht. Die Habsburger hatten es schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebaut. Natürlich auch, weil die böhmischen Länder das Industriezentrum des Habsburgerreiches waren. In der Slowakei sah das ganz anders aus. Die wenigen Eisenbahnen waren alle auf Budapest konzentriert und wurden vor 1918 als Teil der ungarischen Magyarisierungsstrategie so gebaut.“

Tschechoslowakei nach 1920  (Foto: VZÚ,  Public Domain)
Die Strecken durch die Slowakei verliefen von Nord nach Süd, und eben nicht in Richtung Westen, zur neuen Hauptstadt Prag. Die West-Ost-Verbindung der beiden Landesteile hatte deshalb oberste Priorität, und das noch mehr, als der Tschechoslowakei 1920 nach dem Vertrag von Trianon auch die Karpathenukraine im äußersten Osten zufiel. Fast 900 Kilometer lang war der neue Staat damit.

„Es war ein immer wiederkehrendes Problem für das Eisenbahnministerium: Menschen, die sich beschwerten, dass es von Prag in die Karpaten länger dauere als von Prag nach Paris. Das war wirklich so. Immer wieder wurde die geographische Form des Landes kritisiert – es sei einfach zu länglich und von West nach Ost dauere es zu lange.“

Mittelslowakische Transversale  (Foto: David Mikula,  CC BY-SA 4.0)
1920 wurde das erste Gesetz erlassen, dass auf 20 Jahre im Voraus den Eisenbahnbau des neuen Staates plante: 15 neue Trassen waren vorgesehen, fast alle im slowakischen Landesteil. Das größte Projekt war die sogenannte „Středoslovenská transverzála“ (Mittelslowakische Transversale), eine technisch anspruchsvolle Schnellzugstrecke, die die böhmischen Länder mit der Slowakei und der Karpathenukraine verbinden sollte.

“Sie hätte von Trenčin, Banská Bystrica durch die Mitte über Košice und dann in die Karpatenukraine bis nach Jassinja, den östlichen Grenzort verlaufen sollen.“

„Kein Gebirge ist zu hoch …“

Verbindungslinie zwischen Handlová und Horná Štubňa 1931  (Foto: Archiv MDC Bratislava)
Das gigantische Projekt zählte zu den teuersten Baumaßnahmen der Tschechoslowakei, teurer als die meisten Gebäudeneubauten. Damit verbunden war ein enormer Personalaufwand. So waren etwa bei den Bauarbeiten an einer kleinen Verbindungslinie zwischen Handlová und Horná Štubňa im Jahr 1930 durchschnittlich 4.220 Arbeiter pro Tag im Einsatz. Die Strecke war nur 18 Kilometer lang, führte aber mitten durch die Berge.

„Kein Gebirge ist zu hoch um die Tschechen und Slowaken zu teilen und die Tschechoslowakische Einigkeit zu vereiteln“, proklamierte Präsident Beneš, als 1936 die Bauarbeiten am heutigen Čremošné-Tunnel, dem mit 4697 Metern längsten Tunnel der Slowakei, begannen. Gerade die Eröffnungszeremonien wurden zu wichtigen Manifestationen der tschecho-slowakischen Symbolpolitik, sagt Felix Jeschke. Durch Übertragungen im Radio oder in der Kino-Wochenschau erreichten sie landesweit ein großes Publikum.

Felix Jeschke  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
„Extrem wichtig bei diesen Filmaufnahmen war auch, dass sie den Kinobesuchern in Ostrava, Prag oder Brno zeigten, wie dieser neue Staat im Osten tatsächlich aussah, denn die meisten Tschechen waren noch nie dortgewesen. Durch die Filmaufnahmen wurde die Slowakei sichtbar.“

Das Eisenbahnministerium übernahm auch wichtige Propagandafunktionen. Die Staatsbürger sollten neugierig werden und im besten Fall selbst die unbekannten Landesteile bereisen.

„Ein weiteres wichtiges Beispiel: Während der gesamten Ersten Republik lautete das Motto der Tschechoslowakischen Staatseisenbahnen ‚Poznejte svou vlast‘ – Lernen Sie Ihr Land kennen. Das wurde tausendfach reproduziert auf allen möglichen Postern, die in den Zügen und Bahnhöfen hingen.“

Prestigeprojekt Slovenská strela

Zum tschecho-slowakischen Flaggschiff auf der Schiene wurde schließlich die „Slovenská strela“ – das slowakische Geschoß. Der für damalige Zeiten hypermoderne Hochgeschwindigkeitszug fuhr zwischen 1936 und 1939 und verkürzte die Fahrzeit zwischen Prag und Bratislava auf knapp fünf Stunden.

„Das einzige Slowakische daran war die Route zwischen Prag und Bratislava. Der Zug selbst wurde von einem tschechischen Konstrukteur in den Tatra-Werken in Kopřinice konstruiert. Wie der gesamte Tschechoslowakismus war es ein sehr tschecho-zentriertes Projekt, dass einen slowakischen Anstrich bekam, zum Beispiel mit slowakischen Aufschriften im Zug. Aber in autonomistischen Kreisen in der Slowakei wurde bemängelt, dass der Zug zwar ‚slovenská‘ heiße, aber eigentlich sehr tschechisch sei. Der Slovák, das Hauptorgan von Hlinkas Slowakischer Volkspartei kritisierte immer wieder, dass er doch tschechisch-jüdischer Express heißen müsse – sehr antisemitisch, da der Konstrukteur ein tschechischer Jude war. Das wurde wiederum als Zeichen der tschechischen Oberherrschaft in der Slowakei gewertet.“

In seiner Dissertation geht Felis Jeschke nicht nur dem Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken nach. Anhand der sogenannten Jireš-Affäre zeigt er die Eisenbahn als Raum, in dem Minderheitenkonflikte zu Tage traten. Im konkreten Fall hatte sich 1929 ein tschechischer Lehrer geweigert, in einem Zug der Reichsbahn zwischen Liberec / Reichenberg und Zittau seine Fahrkarte vorzuzeigen, weil er vom Schaffner auf Deutsch angesprochen wurde. Jireš wurde am Ende aus dem Zug geworfen, wobei er sich einen Finger brach.

Verlaufskarte der Bahnstrecke Zittau–Liberec  (Quelle: Lencer,  CC BY-SA 3.0)
„An und für sich ein ganz banaler Vorfall – und darum für mich ein Beispiel, dass die meisten dieser Nationalitätenkonflikte tatsächlich ganz banal waren. Und dass eben Züge oftmals die Orte waren, wo diese banalen Konflikte ausgetragen wurden. Denn dort trafen Menschen mit verschiedener Muttersprache aufeinander, die sich als Angehörige verschiedener Nationen betrachteten.“

Über den Fall Jireš stritten die tschechische und die deutsche Presse wochenlang erbittert, die Sache wurde am Ende sogar vom Parlament verhandelt. Das Beispiel verdeutlicht, dass die Konstruktion einer tschecho-slowakischen Nation unter Berücksichtigung der Minderheiten stets ein Balanceakt war.

Zwischen Heimatstil und Moderne

Zwei Beispiele aus der Bahnhofsarchitektur versinnbildlichen für Felix Jeschke schließlich den grundlegenden Widerspruch im ideologischen Selbstverständnis der ersten Republik: Der monumentale, funktionalistische Bahnhof von Hradec Kralové / Königgrätz steht für den damaligen Trend des Internationalismus. Der fast zeitgleich entstandene Bahnhof von Uherské Hradište / Ungarisch Hradisch dagegen wurde im völkischen Heimatstil gebaut. Felix Jeschke spricht auch vom Eisenbahn-Paradox:

Bahnhof in Uherské Hradiště  (Foto: ŠJů,  CC BY 3.0)
„Der Internationalismus der Eisenbahn war gerade für die Erste Tschechoslowakische Republik sehr relevant, wegen der Ideologie der Republik, die besagte, dass gerade die Tschechoslowakei eine extrem demokratische Nation und wirklich eine Insel der Demokratie in Ostmitteleuropa sei. Die Offenheit für dieses westliche Demokratieverständnis wurde auch durch die Eisenbahn symbolisiert. Weil die Eisenbahn modern und offen und international war, war sie auch wieder tschechisch und tschechoslowakisch und ein Symbol für die Demokratie. Für diesen Widerspruch zwischen einem fast völkischen, ‚lidové‘- Verständnis – versinnbildlicht durch diesen Bahnhof (in Uherské Hradiste, Anm. d. Red.) – und dem internationalen, demokratischen offenen Verständnis von Eisenbahn, sind diese beiden Bahnhöfe gute Beispiele.“

Felix Jeschkes Studie illustriert, wie in der Ersten Republik auch mit der Eisenbahn versucht wurde, ein tschechoslowakisches Nationalbewusstsein zu konstruieren. Mit nur geringem Erfolg, lautet das Ergebnis.

Bahnhof in Jassinja  (Foto: Daniel Baránek,  CC BY-SA 4.0)
„Heute denken wir, das gibt es nicht, es gibt eine tschechische und eine slowakische Nation. Das war auch nach dem Zweiten Weltkrieg sehr klar, als die Tschechoslowakei wieder hergestellt wurde, aber eben als staatliche Vereinigung zweier verschiedener Nationen und nicht wie im Tschecho-Slowakismus als Äste der gleichen Nation. Sehr erfolgreich war aber die Herstellung eines tschechoslowakischen Raums: Die Vorstellung, dass Tschechien und die Slowakei zusammen in einen Raum mit sehr klaren Grenzen gehören.“

Ende der 1930er verfügte die Tschechoslowakei über ein dichtes Streckennetz von Cheb / Eger im Westen bis nach Jassinja in der Karpathenukraine. Das Mammutprojekt der „Transversale“ durch die Slowakei fand wie viele andere Bauprojekte mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten ein jähes Ende.