Die Tschechen und die Oktoberrevolution 1917

Russland 1917 (Foto: Public Domain)

Der sozialistische Umsturz in der Wahrnehmung der Tschechen und seine Bedeutung für die Gründung der Tschechoslowakei

Demonstration in Petrograd  (Foto: Stinton Jones,  Public Domain)
Die Oktoberrevolution kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Seit Beginn des Jahres 1917 hatte sich die Proteststimmung in Russland spürbar verschärft. Streiks und Demonstrationen waren im damaligen Petrograd die Reaktion auf Preissteigerungen und eine immer schlechtere Versorgungslage. Die von der Hauptstadt ausgehenden Arbeiteraufstände mündeten zunächst in der Februar-Revolution von 1917. Damit endete die Herrschaft des russischen Zaren.

In der Folge spitzten sich die Ereignisse weiter zu, mit der Doppelherrschaft der neugebildeten provisorischen Regierung und des Petrograder Sowjets, der Ankunft Lenins in Russland, dem Fehlschlagen der sogenannten Kerenski-Offensive gegen die Mittelmächte und dem Machtgewinn der Bolschewiken bis dann zur Revolution.

Radomír Vlček  (Foto: Ondřej Tomšů)
Über die gesamte Entwicklung seien die tschechischen Politiker und die Einwohner der böhmischen Länder informiert gewesen, sagt der Historiker Radomír Vlček von der tschechischen Akademie der Wissenschaften:

„Auch in tschechische Kreise gelangten die Informationen darüber, dass in Russland eine Revolution stattfindet. Besonders viel wurde in der ersten Phase berichtet, in der Zeit der Februar-Revolution. Tschechische Politiker und Repräsentanten, vor allem diejenigen, die sich im Ausland aufhielten, reisten – wie auch andere Politiker der Welt – im Frühling 1917 nach Russland, um persönlich zu erfahren, was dort geschieht.“

Masaryk in Petrograd

Tomáš Garrigue Masaryk
Einer von ihnen war der künftige Staatspräsident der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk:

„Masaryk traf im April 1917 in Petrograd an. Er kam auf Einladung seines Freundes Pawel Nikolajewitsch Miljukow. Der liberale Geschichtsprofessor war Außenminister in der ersten provisorischen Regierung. Als Masaryk eintraf, war Miljukow bereits zurückgetreten. Trotzdem erfuhr Masaryk von ihm und auf Grund seiner eigenen Erlebnisse, was in Russland los war. Er erfuhr, dass er auch unter den neuen Bedingungen in Russland die tschechischen Forderungen nach einem eigenen Staat durchsetzen sowie die Gründung der tschechoslowakischen Legionen in Russland vorantreiben kann.“

Nur zwei Monate später kamen die Legionen erstmals entscheidend zum Einsatz. Tschechische und slowakische Soldaten kämpften in der Schlacht bei der ukrainischen Gemeinde Zborów am 1. und 2. Juli 1917 als Freiwillige in den Reihen der russischen Armee, und das mit Erfolg. Nach der Schlacht schenkten die Alliierten dem tschechoslowakischen Widerstand im Ausland deutlich mehr Aufmerksamkeit. Der Sieg der Legionäre in Russland und weitere in Frankreich und Italien schufen die Voraussetzung für eine internationale Anerkennung der Tschechoslowakei im Oktober 1918.

Legionäre in Russland  (Foto: Archiv des Militärhistorischen Instituts in Prag)
„Wichtig war das Wissen im Ausland, dass es in Russland, wie bereits seit Längerem in Frankreich, ein tschechoslowakisches Heer gab. Es wurde klar, dass die Entente mit der Entstehung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates rechnete und auch die Politiker wie Masaryk oder Beneš auf diese Selbständigkeit vorbereitet waren.“

Tschechoslowakische Legionen in Russland

Wie Radomír Vlček betont, wurde die Oktoberrevolution als solche damals nicht als dramatischer Kurswechsel gesehen, sondern als ein Glied in der Kette der gesamten Ereignisse. Und das galt sowohl für die Tschechen und Slowaken, als auch für die Russen selbst. Die Legionäre, die die Machtübernahme durch die Bolschewiken in Russland unmittelbar erlebten, waren geteilter Ansicht:

Jaroslav Hašek  (Foto: Public Domain)
„Ein kleinerer Teil war linksorientiert und unterstützte diesen Umbruch. Der wohl bedeutendste und bekannteste Vertreter dieser Gruppe war der Schriftsteller Jaroslav Hašek. Die Mehrheit lehnte aber das Vorgehen der Bolschwiken ab. Sie stand hinter Kerenski und der provisorischen Regierung, die die revolutionären Ereignisse als Versuch eines Demokratisierungsprozesses betrachteten. Unter den Legionären herrschte also keine einheitliche Meinung. Und auch zahlreiche Erinnerungen, die jüngst zum 100. Jubiläum des Ersten Weltkriegs veröffentlicht wurden, belegen, dass die Ereignissen im Oktober 1917 sehr individuell gedeutet wurden.“

Der Umsturz und der folgende Bürgerkrieg in Russland bedeuteten keine unmittelbare Bedrohung für die vielen Tausend Tschechen in Russland, sagt Radomír Vlček:

„Masaryk setzte sich für eine Erklärung ein, dass das tschechoslowakische Heer in innere Angelegenheiten des russischen Staates nicht eingreifen werde. Aus diesem Grund appellierte er an die Legionen, russisches Gebiet zu verlassen.“

Lenin  (Foto: Public Domain)
Der kürzeste Weg führte westwärts. Doch dieser war nicht möglich, weil die Legionäre dort in die Kämpfe an der Front geraten wären.

„Deswegen wurde der Weg Richtung Osten gewählt. Wie sich später zeigte, war dieser sehr kompliziert. Es kam auch dort zu zahlreichen Auseinandersetzungen, aber es war die einzige Möglichkeit.“

Obwohl die Legionäre im Ersten Weltkrieg in der russischen Armee gekämpft hatten, wurde die neugegründete Tschechoslowakei nie ein Verbündeter der Sowjetunion.

„So etwas wurde auch nicht erwogen. Das Sowjet-Russland, wenn wir den Staat nach dem Oktober 1917 etwas ungenau mit diesem Begriff bezeichnen wollen, hat auch nie Interesse daran gezeigt. Für Russland existierten nur zwei Visionen. Zum einen die Vision einer Revolution – also eines eindeutigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umbruchs. Und zweitens – und diese Vorstellung stand über der ersten – die Vision einer Weltrevolution. Lenin, Trotzki und weitere Spitzenvertreter verteidigten noch mehrere Jahre nach dem Oktober 1917 vehement die These einer Weltrevolution. Dieser zufolge sollte die Welt nur auf der Basis des Weltproletariats vereinigt werden können.“

Vom Panslawismus zur Begeisterung für Sowjetunion

Friedensverhandlungen zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland  (Bundesarchiv / Bild 183-R92623 / CC-BY-SA 3.0)
Auch die Informationen über die weitere Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution und in den Nachkriegsjahren kamen hierzulande unmittelbar und durchgehend an.

„Die Presse funktionierte gut. Nicht einmal die österreich-ungarische Presse war daran interessiert, die Informationen zu verzerren. Die Berichterstattung über die Ereignisse in Russland und später über die Friedensverhandlungen halfen Österreich-Ungarn und Deutschland bei der Kriegsführung. Die tschechische Presse verstärkte seit Anfang 1918 ihren Einsatz für die tschechischen nationalen Interessen, und in diesem Kontext suchte sie nach relevanten Informationen aus dem Osten.“

In dieser Zeit wurde unter anderem die Frage gestellt, ob man die Vision des russophilen Panslawismus weiter verfolgen sollte. Diese Idee war im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in der tschechischen Gesellschaft populär geworden.

„Bei einem Teil der Gesellschaft lebte diese Idee weiter. Sie verwandelte sich später in linke Ideen. Aus dieser Begeisterung heraus besuchten manche Literaten später persönlich die Sowjetunion. Dieser Wandel von russophilen zu linken Ideen lässt sich bei vielen Schriftstellern feststellen wie etwa Marie Majerová oder Marie Pujmanová.“